Heute vor genau zwei Monaten starb meine Mutter, Ruth Vogt.
Sie war schon sehr lange sehr krank. Ihr Tod kam nicht überraschend, dennoch hat er eine schmerzliche Lücke aufgerissen. Ein einzigartiger Mensch ist plötzlich nicht mehr da.
Sie war bestimmt nicht die einfachste Frau und gelacht hat sie eher selten. Trotzdem hat sie aus vollem Herzen alles gegeben, was sie konnte, um ihren Kindern ein schönes, sicheres und liebevolles Zuhause zu bieten. Ohne ihre Unterstützung wäre ich heute nicht da, wo ich bin.
Sie hat vieles erlebt, um nicht zu sagen „durchgemacht“ in den 85 jahren, die sie auf der Erde verbracht hat. Als kleines Kind wuchs sie mitten im Zweiten Weltkrieg in Berlin auf, wurde aufs Land nach Pommern verschickt und erlebte das Kriegsende im heimatlichen Buckow. Ihr Vater wurde nach Kriegsende im Polizeidienst erschossen, ihre Mutter führte ein strenges Regiment. Der Weg zur Handelsschule, auf die sie gerne gegangen wäre, war wegen der schlechten finanziellen Lage nicht möglich, so machte sie eine Ausbildung zur Näherin. In ihrer Freizeit ging sie gerne Tanzen, ließ sich im Walzerwirbel durch den Saal führen.
Ihre erste große Liebe schenkte ihr zwei Kinder, aber keinen Trauschein – ein Musiker und Seemann, der schnell wieder abtauchte. Auf sich alleine gestellt, versuchte sie es mit der Selbstständigkeit und begann einen Kiosk zu führen. Als das erste Kind durch einen schweren Sturz und eine Fehl-Operation dauerhaft geschädigt und Pflegefall wurde, gab sie das zweite in Pflege. Der Kiosk lief schlecht, die Schulden häuften sich. Völlig überfordert erlitt sie schließlich einen Nervenzusammenbruch.
Die Lage besserte sich, als sie Konrad, meinen Vater, kennen lernt. Er wirbt lange um sie, 1965 heiraten beide. Ein Jahr später kam ich auf die Welt, zwei Jahre nach mir meine Schwester, das zweite Kind aus der ersten Beziehung wird in die neue Familie geholt. Mein Vater war Postbote, das Gehalt reichte für den Unterhalt der fünfköpfigen Familie, große Sprünge waren aber nicht drin. Um die Kasse aufzubessern arbeitete meine Mutter als Putzkraft. Alle Energie steckte sie in die Familie, sie half bei den Hausaufgaben, wo sie konnte, führte den kompletten Haushalt (mein Vater war ein Patriarch alter Schule und rührte keinen Finger) und kümmerte sich liebevoll um uns Kinder. Ich erinnere mich an Ausflüge zum Strandbad Wannsee, ins Kino oder zur Eisdiele.
Einer meiner großem Wünsche war es, meinen Onkel und Tante in Los Angeles zu besuchen. Mitte der 80er Jahre waren Flugreisen aber noch sehr teuer, Hin- und Rückflug kosteten etwa 2.000 DM – kaum bezahlbar für mich. Meine Mutter und ich saßen deshalb monatelang am Küchentisch und entgrateten in Heimarbeit Massen an Gummiteilen, -dichtungen etc.
Als ich eine Ausbildung zum Grafiker machen wollte, half mir meine Mutter, das Schulgeld zusammen zu bekommen und gab mir Geld für die Kunst-Materialien.
Meine Mutter war rastlos, hat sich nie geschont, immer war sie am Arbeiten. Selbst Abends, wenn die ganze Familie vorm Fernseher saß, häkelte oder strickte sie nebenbei noch einen Schal, Pullover oder Socken für eins von uns Kindern.
Nachdem mein Vater 2002 verstarb, fiel es ihr schwer, ihren Lebensmut beizubehalten. Sie fand es verstörend, mit ihren gesundheitlichen Einschränkungen zu recht kommen zu müssen – eine Knieverletzung erschwerte das Gehen, eine Herzinsuffizienz machte ihr das Atmen schwer. In den letzten Jahren wartete sie auf den Tod – das war wohl schon als junge Frau eine fixe Idee bei ihr, sie wollte nie älter als 50 oder 60 werden. Nichtsdestotrotz gab sie nie auf, sie kämpfte weiter und hielt am Leben fest, bis es ihr am Ende dann doch zu viel wurde. Wenige Minuten vor ihrem Tod im Kreis der Familie schnauzte sie den anwesenden Arzt an, wie lange das mit dem Sterben den nun noch dauere.
Ich werde nun ohne ihre Ratschläge zurecht kommen müssen, ohne die Möglichkeit, ihr von meinem Leben und Erlebtem erzählen zu können und zu sehen, wie ihr Tag dadurch etwas heller wird (sie hatte nach wie vor immer großes Interesse an allem, was wir Kinder ihr erzählten), ohne Besuche in der alten Wohnung, in der wir groß wurden und in der sie 50 Jahre gelebt hat.
Ich vermisse sie sehr.
In Liebe,
Michael